Flucht aus der
DDR
aus den Erinnerungen von Lenz Fundt
(1965 bis 2018)
… Wir waren damals grade 15 und hatten die Schule geschafft.
Während der Lehre sollten wir schon die militärische
Grundausbildung machen, schießen und so, aber das war unsere
Sache nicht. Irgendwie kamen wir drauf, wir hauen ab, der F.
und ich und die zwei Brüder B., das waren Zwillinge.
Jedes mal wenn wir uns trafen und heimlich rauchten ging es
darum, wir machen rüber, aber wie? Der F. hatte einen Onkel der
arbeitete bei der Stasi und war für die Einsatzpläne der
Grenztruppen in einem Abschnitt in Sachsen-Anhalt zuständig.
Den hat der F. an einem Wochenende besucht, hat die Pläne aus
dem Wohnzimmerschrank genommen und mit einer alten Kamera
abfotografiert. Das war zwar klitzeklein und nur mühsam zu
lesen, aber es stand alles drin: Wann wer Dienst hat, in
welcher Reihenfolge und welchem Zeitabstand welcher Abschnitt
begangen wird, wann die Schichten wechseln und so weiter. Wo F.
die Fotos entwickelt hat, keine Ahnung. Er sie bei sich zu
Hause hinter der Tapete versteckt und da haben wir sie erst mal
gelassen.
An einem Freitagnachmittag sind wir nach Berlin gefahren, völlig ungeplant, mit der Reichsbahn und dann zu Fuß. Wir wollten an die Mauer und das war natürlich Sperrgebiet, dauernd wurden wir von Posten aufgehalten. Wir haben dann gesagt, die Brüder B. wollten ihre Tante in Spandau besuchen und den Passierschein hätten wir zu Hause vergessen. Am Ende standen wir dann tatsächlich in einer Wohnsiedlung in Sichtweite der Mauer. Was wir nicht wussten, die Siedlung war von der NVA bewohnt, nur mit Soldaten. Wir haben uns unter einen vorstehenden Balkon verkrochen und die Dunkelheit abgewartet. Natürlich sind wir eingeschlafen, alle vier, bis uns mitten in der Nacht der Strahl einer Taschenlampe geweckt hat.
Wir sind in dann für einige Tage in ein Jugendarrestheim gekommen, dort haben sie uns verhört, was das denn sollte, ausreißen, und was wir ausgerechnet an dieser Stelle gewollt hätten. Meine Eltern waren stramme Parteimitglieder und konnten das Schlimmste verhindern. Eine Woche später waren wir wieder zu Hause, durften uns aber nicht mehr treffen und haben den Kontakt zu einander verloren.
Erst im Frühjahr drauf sind wir uns wieder über den Weg gelaufen, und sofort war das Thema wieder da, wir hauen ab. Die Einsatzpläne steckten noch hinter der Tapete in F.’s Zimmer und ein paar Tage drauf waren wir auf dem Weg nach Anhalt, in irgend ein Dorf mit R…, ich weiß nicht mehr. Den Nachmittag verbrachten wir am Waldrand im Gebüsch versteckt und spähten die Grenzanlagen aus. Der Grenzabschnitt war für unser Vorhaben ideal, die Wachtürme standen weit auseinander. Es wurde dunkel, und wir wussten genau, wo wir lang mussten. Den ersten Zaun hatten wir in ein paar Sekunden, die Brüder B. hatten eine Drahtschere dabei, das ging ritsch-ratsch, und dann durch das Loch. Wie nun weiter? Die Lichtkegel der Scheinwerfer wanderten unablässig auf dem Grenzstreifen hin und her, da war normal kein Durchkommen. Aber wir wussten, wenn sich die Scheinwerferkegel der beiden Türme trafen, waren die Posten für einen Moment vom Gegenlicht geblendet. Und jedes Mal wenn das der Fall war, robbten wir ein Stück weiter, so kommt man auch voran, und Zeit hatten wir genug. Wir waren schon dicht beim ersten Weg, dem für die Wachposten zu Fuß. Doch davor lag noch ein Graben, voller Schlamm, durch den robbten wir durch. Wir waren dreckig wie die Schweine, aber wen störte das? Wir drückten unsere Nasen in das Gras der Böschung und warteten auf den Fußtrupp, der laut Plan um halb zehn die Stelle passieren musste. Und er kam. Wir hörten die Stimmen der Soldaten lauter werden, einer von ihnen redete über die Vorlieben seiner Frau oder Freundin. Dann wurden die Stimmen leiser und verschwanden schließlich ganz. Jetzt war der Zeitpunkt gekommen. Wir sprangen aus dem Versteck, überquerten den zweiten Weg und rannten auf den nächsten Zaun zu. Plötzlich „Halt!“, aus der Richtung, wo wir es nicht mehr vermutet hätten. Wir hatten die Soldaten natürlich nicht gezählt, als sie an uns vorbeikamen, und einer war wohl austreten gewesen ohne sich abzumelden, sonst hätten die anderen auf ihn gewartet. Wieder „Halt“, doch wir kannten nur noch eines: Laufen – und hielten auf den Elektrozaun zu.
Später hat der Grenzer in einem Disziplinaraverfahren eine symbolische Strafe erhalten. Er hätte erst ein drittes mal halt rufen müssen, dann „Halt oder ich schieße“, dann einen Warnschuss abgeben. Aber er hat gleich draufgehalten, mich hat er an der Schulter erwischt, F. im Oberschenkel, was mit den Brüdern B passiert ist, weiß ich nicht, wir wurden sofort getrennt und haben uns bis heute, dreißig Jahre danach, nicht wieder gesehen.
Dann tauchte ein Armeelaster auf. Sie haben uns auf die Ladefläche geschmissen wie Vieh, mit unseren Schussverletzungen haben sie sich nicht aufgehalten. Wir kamen in ein Armeekrankenhaus bis wir vernehmungsfähig waren, doch eigentlich haben sie darauf gar nicht gewartet, die haben uns von Anfang an verhört. Nach ein paar Tagen ging es in ein Stasi-Gefängnis in Berlin. Das war die härteste Zeit, und seitdem kann mir Knast nichts mehr anhaben, das, wo ich später gesessen habe im Westen, ist Kindergarten dagegen. Ein Jahr strenge Einzelhaft, das heißt allein auf Zelle, keiner der ein Wort mit Ihnen wechselt, absolute Besuchssperre. Nur Verhöre, rund um die Uhr, die holten einen zu jeder Tages- und Nachtzeit aus der Zelle. Die wollten von uns wissen, von wo wir die Einsatzpläne hatten, ob wir Helfer hatten, wer das für uns organisiert hatte, die konnten gar nicht glauben, dass das nicht mehr als ein Dummejungenstreich gewesen sein sollte.
In der Zelle stand ein halbhoher Tisch, ein Stuhl, ein Eimer. An der Wand eine Pritsche. Morgens um 6 war Wecken, da hatte der Tisch im Türrahmen zu stehen, Besteck, Teller, Tasse penibel geordnet, sonst konnte man sein Frühstück gleich vergessen. Dann wurde die Pritsche hochgeklappt, sie konnten nur auf dem Stuhl sitzen, wenn sie sich legen wollten, blieb eben der Boden. In den über 11 Monaten, die ich da war, habe ich zwei mal ein Neues Deutschland in die Finger bekommen und vom ersten bis zum letzten Buchstaben ausgelesen, und das war’s.
Ich habe dann zweieinhalb Jahre wegen Republikflucht bekommen, wegen bewaffneter Republikflucht, dass wir eine Drahtschere und einen Schraubenzieher dabei hatten, haben die uns als „bewaffnet“ ausgelegt, wir hätten damit ja einen Soldaten angreifen können. Die zweieinhalb Jahre habe ich in D. verbracht, das war auch ein ganz anderer Knast als es die hier gibt. Einzelzellen gab es da nicht, das war Kollektivvollzug, es gab nur die Gruppe. Wir lebten mit 40 bis 50 Häftlingen in einem Saal, jeder ein Bett und ein Stuhl, alle blau angezogen. Die wegen Flucht saßen, hatten auf ihrer Hosennaht einen gelben Streifen, da wusste man immer gleich Bescheid, aha, ein Politischer. Der Tag bestand aus Drill, morgens um sechs hieß es aus den Betten, da musste man raus und gleich strammstehen. Dann in Dreierreihen aufstellen zum Waschen, und kaum hatten die ersten den Waschsaal betreten brüllten die Wärter schon „Voran! Da warten noch drei Dutzend andere hinter euch, die Zeit geht alle von eurem Frühstück ab!“
Frühstück gab es in einem riesigen Esssaal, alles auf Kommando. Erst mussten wir uns hinter den Stühlen aufstellen, dann kam das Kommando „Stühle zurück“. Und wehe, sie hörten da einen Stuhl über den Boden scharren! Heben mussten wir die, und wenn nur der kleinste Laut zu hören war, hieß es Kommando zurück, das ganze noch mal von vorn, solange, bis sie eine Stecknadel hätten fallen hören können. Das war pure Schikane, den ganzen Tag. Bestraft wurde immer die ganze Gruppe, nie der einzelne. Deren Lieblingsstrafe war die „Treppe“. Da hieß es für den ganzen Saal: „Alles anziehen“, also, die gesamte Kleidung, Schlafanzug, Winterjacke, übereinander, was wir hatten. Dann „Packen!“, und das hieß: Decke, Matratze, Geschirr, Habseligkeiten zu einem Bündel schnüren, und das war schwer! Dann los: Vier Etagen runter mit den ganzen Klamotten am Leib und dem ganzen Gepäck, einmal rund um den Hof, dann wieder vier Etagen rauf, im Gänsemarsch und mit Tempo. Oben an der Verwahrraumtüre stand ein Wärter mit Stoppuhr, und wehe, der letzte war nicht unter fünf Minuten durch die Tür, dann wurde das ganze noch mal durchexerziert, und noch mal und noch mal, bis wir unter fünf Minuten blieben. Was glauben sie, was wir gekeucht haben und geschwitzt. Wenn da einer zusammengebrochen ist, das war denen egal, dann haben sie erst mit dem Knüppel versucht, ihn auf Trab zu bringen, das waren diese schwarzen Hartgummiknüppel, die damals jeder Wärter trug. Wenn die damit zuschlugen, hat das ganz schön gezwiebelt. Wir waren nur froh, dass die es nicht gemacht haben wie die Russen, die schnallen immer ihren Gürtel ab, und wenn einen so eine eiserne Gürtelschnalle am Rücken erwischt, oder im Gesicht , dann machen Sie gar nichts mehr, dann schreien Sie nur noch und rennen.
Mit dem Besuch, das lief so, sie mussten die Besucher von draußen zwar reinlassen, aber den Häftling nicht vorführen. Da wurde der Familie einfach mitgeteilt, Häftling X hat den Besuch verweigert. Wenn sie dann in einem Brief schrieben, wie es wirklich war, bekamen sie den von einem Wärter zurück: „Pass auf, ich les’ auch deinen nächsten.“ Da haben sie dann nach dem fünften oder sechsten mal geschrieben, was die wollten, nur damit sie überhaupt eine Nachricht nach draußen bringen konnten.
Gegen Ende meiner Haftzeit kam ein Stasi-Offizier zu uns in den Knast, der kam extra aus Berlin, vom Ministerium. Wir wurden zum Anstaltsleiter gerufen, einzeln, und noch einmal verhört. Ob wir noch irgendwelche Kontakte in der DDR hätten? - Wie denn? Sie haben doch alle Kontakte nach außen unterbunden, alle Besuche untersagt. - Ob wir noch Besitz hätten, den man in der DDR veräußern könnte? - Wir verstanden nicht, wozu diese Fragen. Dann sollten wir unsere Unterschrift auf ein Formular setzen. Zeit zum Lesen hatten wir nicht, erst später auf der Zelle sahen wir, dass das unsere Ausbürgerungsurkunde war. Nach ein paar Tagen wurden wir in einem Transport nach Berlin gebracht und am Checkpoint Charlie der anderen Seite übergeben.
Später habe ich erfahren, dass sich meine Eltern offiziell von mir losgesagt hatten, meine Geschwister und alle anderen auch. Und obwohl acht Jahre nach meiner Ausbürgerung die Mauer fiel, bin ich nie mehr wieder rüber, auch als meine Eltern Anfang der 90er Jahre starben nicht…