Der letzte Hirte
„Ich kann das Gerede von Frieden nicht hören. Das Gesinge von Freude erst recht nicht!“ Er ist Hirte auf den Feldern von Bethlehem, in einem ganzen Pulk unterwegs zur Krippe, obwohl er eigentlich gar nicht dahin will. Er hat den Hut tief ins Gesicht gezogen, keiner soll ihn erkennen.
Friede auf Erden, Freude, Wohlgefallen, das sind Worte, bei denen sich ihm der Magen zusammenzieht. Denn immer, wenn er so etwas wie Freude empfinden will, spürt er zugleich den Schmerz, einen Schmerz, den er beinahe nicht aushalten kann. Den Schmerz darüber, dass er seine Freude nicht mit denen teilen kann, an die er Tag und Nacht denkt und doch nicht denken will. Seine Frau, seine Kinder, die er zurücklassen musste, damals, als er mitten in der Nacht aufbrechen musste, Hals über Kopf das Dorf verlassen.
Friede, Freude, Wohlgefallen. Und dann sollte ein Kind geboren sein, soviel hatte er verstanden, von dem Engelsgeplärr in der Sprache, die nicht seine ist und wohl nie werden sollte. Ein neugeborenes Kind. Er sieht die Bilder vor sich, die er seit drei Jahren vergessen will. Seine drei Söhne, schlafend auf der Lagerstatt. Ihm war nicht einmal Zeit geblieben, seine Hände auf ihren Schopf zu legen für einen dürftigen Segen. Die Augen seiner Frau in der Tür, die ein viertes Kind im Leib trug, nicht einmal den Arm hatte er zum Abschied um sie legen können. Hatte seine Frau die Geburt überstanden? Gab es sein Haus noch, lebten die Kinder noch unter seinem Dach? Immer wieder hatte er den Erzählungen der Kaufleute von jenseits des Jordan eine Nachricht aus seinem Dorf abzulauschen versucht. Doch allzu genau durfte er nicht fragen, er hätte sich sonst verraten. Also blieb er ohne Nachricht, seit drei Jahren ohne jede Nachricht,
Die genaueren Gründe seiner Flucht tun hier nichts zur Sache, fragen sie ihn nicht, klar ist nur, dass er noch einige Jahre vor sich hat, in der Fremde, auf dieser Seite des Jordan, auf dieser Seite der Berge die ihn von seiner Heimat trennen. Vier Jahre wird es mindestens dauern, besser fünf, bis soweit Gras über die Sache gewachsen ist, dass die Behörden in seiner Heimat akzeptieren könnten, dass er zurückkehrt.
Friede auf Erden, Freude, Wohlgefallen – welche Freude soll es für ihn geben? So lange er in der Fremde ist, ist all seine Freude mit Trauer durchsetzt, mit Sehnsucht und Schmerz. Was hat er nicht alles versucht, um diesen Schmerz zu vergessen. Hat sich zugedröhnt, hat sich weggebechert, grölend vor Lachen mit dahergelaufenen Saufkumpanen. Hat sich die Sehnsucht mit einer gekauften Frau aus dem Leib gevögelt. Hat sich mit weißem Stoff in die Umlaufbahn geschossen, um alles von oben zu sehen. Geholfen hat es nichts. Vor sich selbst und dem eigenen Schmerz läuft man nicht davon. Schließlich hat er begriffen, dass er die Zeit in der Fremde einfach aushalten muss. Hat mit seiner Seele ein Stillhalteabkommen geschlossen. Keine Freude mehr. Dafür auch kein Schmerz mehr. Nichts mehr spüren, die Empfindungen abschalten. Im Keim ersticken, was sich regen will an Glück. Er hat sich hart gemacht, die Schafe fürchten ihn mehr, als dass sie ihn lieben, fürchten seine Hände, die sich wiederum fürchten, in das weiche Fell der Lämmer zu fassen, weil sie sich erinnert fühlen an ... Schluß damit. Keine Freude. Kein Schmerz. Ruhe einfach.
Deshalb hat er auch diesen Nachtschichtjob angenommen, hier draußen auf den Feldern. Man ist für sich, und die Gefahr, dass einen einer erkennt, hier im Dunkeln, ist gering. Erst recht, wenn man seinen Hut tief ins Gesicht zieht, wie er es nun tut. Er scheut das Licht.
„Kommst du nicht mit?“
Es ist der Oberhirte, der da neben ihm auftaucht.
Er schüttelt den Kopf: „Ich bleibe bei der Herde.“ Ich kann das
Gesinge von Freude, das Gerede von Friede und Wohlgefallen
nicht hören, fügt er hinzu. Im Stillen. Denn er spürt die
Pranke des Oberhirten auf seiner Schulter und die lässt solch
einen Widerspruch nicht zu.
„Du kommst mit. Schau dir das Kind an, das Neugeborene. Das ist gut für dich!“
Gut, dann kommt er eben mit. Damit der Oberhirte zufrieden ist. Er muss sich ja nicht vordrängeln. Er wird der letzte sein, der letzte Hirte, ganz hinten stehen, da wo ihn der Schein der Lampe nicht verrät, er wird gar nicht erst hinschauen, vielleicht kann er sogar draußen vor der Stalltür bleiben, ohne dass es jemandem auffällt.
Doch er täuscht sich. Kaum sind sie angekommen, schiebt ihn der Oberhirte sanft vor sich durch die Tür. Kein Haus, keine Herberge, nur ein Stall. Hier soll ein Kind geboren sein? Als hätten sich die Hirtenkollegen verabredet, nehmen sie ihn in ihren Kreis und wohin er sich wendet, er kann nicht entrinnen, sie drängen ihn nach Kräften hin zu dem Futtertrog. Und da liegt tatsächlich ein winziges Kind, dürftig gebettet, in Stofffetzen gewickelt. Die Augen fest geschlossen, nur der Mund bewegt sich, tastet sich in die Welt, die für das Kind so kalt und fremd ist wie für ihn. Unwillkürlich streift sein Blick das Gesicht der jungen Frau und er wird starr vor Schreck. Es ist das Gesicht seiner Frau, was er sieht, aber das liegt wohl daran, dass alle Mütter sich ähnlich sehen, so kurz nach der Niederkunft. Nein, weinen wird er jetzt nicht, das darf er nicht, das kann er nicht, vor all den Kollegen, und überhaupt, wenn er weint, verliert er vollends die Kontrolle, fällt in das schwarze Loch, das sich vor ihm auftut. Weinen darf er nicht, dann verliert er sich und hält es am Ende gar nicht mehr aus, macht sich weg mit dem Hirtenmesser oder mit einem Strick oben am Dachbalken, natürlich nicht in diesem Stall, im nächsten wo ihn keiner findet.
Dann endlich kommen keine Tränen mehr, das Schluchzen hört auf
und er spürt die Pranke des Oberhirten auf seiner Schulter, die
da die ganze Zeit gelegen haben muss.
„Das ist die Nachricht!“
Welche Nachricht?
„Schau das Kind an. Und die Frau. Das ist die Nachricht.“
Für einen Moment befällt ihn die Panik entdeckt worden zu sein, enttarnt, als habe der Kollege alles über ihn rausbekommen. Doch dann verschwindet die Angst wieder und er sieht sie vor sich, seine Frau, sein jüngstes, seine drei Großen. Und für einen Augenblick fühlt er sich mit ihnen verbunden, so stark, dass er weiß, sie denken jetzt auch an ihn, sie sehen ihn, wissen wo er ist, wie ihm zumut ist. Er legt die Hand auf ihren Schopf, den Arm um die Taille seiner Frau, sie ist schmal geworden. Er ist sicher, sie spüren seine Gegenwart, jetzt, für sie ist er da, sie warten auf ihn, sie erwarten ihn zurück, wenn die Zeit reif ist.
„Was summst du?“
Sie sind auf dem Weg zurück zu den Schafen und er verstummt,
fühlt sich ertappt.
„Ein Lied von da, wo ich herkomme."
„Ich hab dich noch nie singen hören. Wenn wir am Feuer unsere
Lieder singen bist du stumm wie ein Stein. Wovon handelt das
Lied?“
Wovon handelt das Lied? Von Frieden auf der Erde. Vom
Wohlgefallen unter den Menschen. Von Freude. Und vom Licht. Vom
Licht im Dunkel der Nacht. Vom Licht, das niemals verlöscht.