Keiner geht
verloren
Predigt am Totensonntag
zu Johannes 6, 37 - 40
Wir hören eine Predigt, die sich fragt, was auf. uns wartet, wenn dieses Leben an sein Ende kommt. Die Predigt ist aus dem Internet und stammt von Pfarrer Ulrich Pohl. Sie trägt den Titel "Keiner geht verloren".
Keiner geht verloren. Mose nicht, von dem wir eben in der
biblischen Lesung gehört haben (biblische Lesung aus 5. Mose
34, 1 bis 8). Gott selbst habe ihn begraben. Die Jünger
nicht, zu denen Jesus die Worte in unserem Predigtabschnitt
spricht: „Ich verliere keinen von denen, die mir mein Vater
anvertraut hat.“ Und Jesus selbst nicht, der am Kreuz gestorben
ist, aber dann auferstanden ist und wiedergekommen, um sich den
Jüngern zu zeigen. Niemand geht verloren.
Keiner.
Auch wir nicht, die wir uns sorgen: Was kommt nach dem Tod? Was geschieht mit uns, wenn dieses Leben an sein Ende kommt? Was ist ein Mensch dann noch? Woraus besteht er? Was ist das Verbindende zwischen dem, der er hier war und dem, der er dort sein wird? Gibt es überhaupt ein Leben nach diesem Leben?
Wir wissen es nicht. Kein Wissenschaftler konnte es bisher erforschen, kein Reisender ist von dort zurückgekehrt, kein Denker hat enträtseln können, wie es dort zugeht. Wir wissen nur, wir gehen darauf zu. Das, was kommt, ist dem menschlichen Wissen entzogen. Viele klammern es aus, sich damit überhaupt zu beschäftigen. Man muss sich eben abfinden, man kann nichts machen. Nicht zu viel darüber nachdenken. Man lebt hier, das „Dort“ ist weit weg.
Aber dann kommt es uns mit einem Mal nah. Aus unserer Mitte stirbt ein Mensch. Ein Mensch, mit dem unser Leben verbunden war, so eng verbunden, dass es schmerzt; er ist nicht mehr da! Wir möchten ihn festhalten, möchten, er soll weiter da sein, soll weiter um uns sein. Das, was war, soll nicht alles gewesen sein. Der Kontakt soll nicht verloren gehen. Wir dachten immer, wir stehen mit beiden Beinen im Leben, in diesem Leben. Nun beginnen wir, Zwiegespräche zu führen, in Gedanken oder laut. Bist du da? Hörst du mich? Du fehlst mir! Ich vermisse dich. Ich vermisse deine Nähe. Ich brauche deinen Rat. Ich höre deine Stimme. Ich fühle dich um mich. Ich weiß, du kannst nicht bleiben. Aber bitte: bleib!
In diesen Augenblicken fühlen wir, da ist etwas. Da ist etwas, das können wir nicht sehen. Das können wir nicht anfassen, aber es ist da. Es ist die Welt, die „unsichtbar sich um uns breitet“, so haben wir es eben gesungen (EG 652, 6). Gedichtet hat diese Zeilen von ein Mann, der mitten aus dem Leben gerissen wurde. Der von allen getrennt war, die ihm etwas bedeuteten. Der die Nähe seiner Lieben herbeisehnte. Und der seiner Sehnsucht Worte gab. „Die Welt, die unsichtbar sich um uns breitet …“,wenn wir besonders verletzlich sind, besonders empfindsam, spüren auch wir sie, diese Welt. Sie ist da. Wir sind von ihr umgeben. Wir sind Teil von ihr und sie ist ein Teil von uns.
Eine Zeit lang bleibt dieses Gefühl bei uns. Dann verflüchtigt es sich wieder. Wir merken es daran, die Pausen werden länger, die Pausen zwischen den Zwiegesprächen mit denen, die wir vermissen. Immer mehr andere Stimmen drängen sich dazwischen, und sie werden lauter. Ein Mensch ist nicht mehr da, wir haben an ihm gehangen, wir haben ihn geliebt, er war ein Teil von uns, ja. Aber nun ist er auf einem anderen Weg, und wir sind auch auf einem anderen Weg, und wir können einander nicht dauerhaft begleiten. Das Leben greift nach uns, dieses, das diesseitige Leben. Schon müssen wir wieder Entscheidungen treffen, obwohl uns das meiste völlig belanglos erscheint.
Aber anderen ist es eben wichtig und wir können uns dem nicht verschließen. Das Leben greift nach uns, und wir lassen uns darauf ein, nicken anfangs nur stumm, wenn man uns fragt, sagen dann Ja, sagen Ja mit zunehmend festerer Stimme. Und irgendwann sagen wir auch wieder Nein, ziehen Grenzen, lehnen ab oder nehmen an. Es muss ja irgendwie weitergehen. Äußerlich sind wir wieder „dabei“, und doch fühlt sich vieles noch fremd an, wie eine neue Sprache, die man mühsam buchstabiert. Mühsam, aber es hilft nichts. Zeit verstreicht, Tränen trocknen, Wunden heilen. Wir finden zurück ins Leben.
Und die, von denen wir haben Abschied nehmen müssen?Wollten wir sie nicht für immer im Herzen behalten? Wollten wir nicht jeden Tag, jede Minute weiter mit ihnen teilen? Jede Stunde auf ihr Bild schauen und alle Arbeit ruhen lassen? Wollten wir sie nicht festhalten, damit sie weiter ein Bestandteil unseres Alltags bleiben? Damit sie weiter vorkommen und da sind, in dieser Welt, der Welt, in der man das, was da ist, sehen und anfassen kann?
Denn was geschieht mit ihnen, wenn sie sich in unseren Gedanken verflüchtigen? Wenn sie weniger werden in unserem Gedenken? Hören die Verstorbenen auf, da zu sein, wenn nicht wenigstens wir versuchen, sie festzuhalten? Wenn wir uns an ihr Gesicht nicht mehr richtig erinnern? Wenn wir Foto anschauen müssen, um zu sehen, so war er? Wenn die Fotos irgendwann in Alben sortiert werden, und die Alben nur noch selten aufgeschlagen? Wenn die Bilddateien nicht mehr zu öffnen sind, weil es längst ein anderes Format gibt? Wohin gehen die, die gegangen sind, wenn wir sie in unserem Gedächtnis langsam verlieren? Gehen sie verloren? Und wohin gehen wir, wenn es so weit ist?
„Ich werde nichts verlieren von dem, was mir mein Vater anvertraut hat. Vielmehr will ich es auferwecken am jüngsten Tage.“
Von der Welt auf der anderen Seite wissen wir nichts. Und dürfen doch etwas wissen. Weil wir dem vertrauen, der das gesagt hat. „Ich werde nichts verlieren von dem, was mir mein Vater anvertraut hat.“
Niemand geht verloren. Keiner. Mose nicht. Die Jünger nicht, die diese Worte Jesu später weit in alle Welt hinausgetragen haben. Und Jesus selbst, auf den sich unser Glaube gründet, auch nicht. Er ist gestorben. Er ist auferstanden und zu den Jüngern gekommen. Er kommt auch noch heute und spricht zu uns. Niemand geht verloren.
Es ist nicht wirklich entscheidend, dass wir es sind, die die Verstorbenen in Gedenken festhalten und im Leben halten. Wir dürfen das tun, und wir tun es um unserer selbst willen. Aber um unserer lieben Verstorbenen willen müssen wir es nicht. Wir dürfen sie loslassen, denn es ist ein anderer da, der sie hält. Ihm geht keiner und er gibt keinen verloren.
Es ist wohl auch nicht entscheidend,dass wir die Menschen, die sich auf den letzten Weg machen, möglichst lange hier festhalten. Um jedes Leben kämpfen, mitunter tun wir auch dies um unserer selbst willen. Aber wir sollen das mit Maß tun. Wir sollen das Leben nicht absolut setzen. Wenn der Weg eines Menschen am Ende unumkehrbar ist, dürfen wir ihn loslassen. Leben retten und erhalten um jeden Preis, das ist ein Modegedanke der letzten Jahre, der das Leben hier mitunter sehr verengt. Er passt nicht zu dem, was wir glauben. Dieses Leben ist - eben dieses Leben. Es gibt noch ein anderes. Es ist das Leben, von dem Jesus spricht. Die, die ihm anvertraut sind, wird er nicht verlieren. Am Ende der Tage wird er sie auferwecken zu einem neuen Leben, einem Leben, das ewig ist.
Wir aber dürfen die, um die wir uns sorgen, dem Vater anvertrauen. Wir beten für sie. Wir sollen vor Gott an sie denken. Die, die kommen, die die gehen, wir legen sie in seine Hände: Himmlischer Vater, segne, die leben. Schütze, die im Krieg sind. Schenk Frieden denen, die in Aufruhr leben. Tröste, die trauern. Stille den Schmerz derer, die leiden. Vergib uns, wenn wir Schuld auf uns laden. Nimm die Hand derer, die die letzte Reise antreten. Mach heil, was unter unseren Händen bricht. Bring zurück, was verloren ging. Schenk uns, dass wir einander wiedersehen in deinem himmlischen Reich.
Wenn wir so beten, wird Gott nicht nein sagen. Jesus selbst sagt es: „Mein Vater wird niemanden hinausstoßen.“
Niemand geht verloren. Keiner. Wir nicht. Die vor uns waren nicht. Die nach uns kommen nicht. Wir werden einander wiedersehen. Und alles wird sich finden.
Amen.